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Ein Hoch auf die Unzufriedenheit

Veränderung ist Leben. Wehren ist zwecklos. Zudem nehmen die globalen Entwicklungen des Klimawandels und der Digitalisierung den Menschen in die Pflicht, sich einzubringen. Dabei hat er die Möglichkeit, sich nicht nur anzupassen, sondern aktiv zu gestalten.

Dieser Sommer, dieser eine Sommer! Jeder hat Erinnerungen an vermeintlich perfekte Momente im Kopf. Warum konnte nicht alles so bleiben wie damals? Was hat uns bloss so ruiniert? Das Leben. Und das ist gut so. Abgesehen davon, dass Stillstand unmöglich ist, wäre er kaum erstrebenswert: Monotonie ist nichts für uns. Wer will schon ewig in einer Zeitschleife am Strand hängen?

Werden und Wandeln

Von Heraklit ist schon aus dem alten Griechenland überliefert: panta rhei – alles fliesst und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Das Prinzip des Lebens wird durch das Bild beschrieben, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne. Weitergetrieben, kann die Analogie beunruhigend wirken. Denkt man etwa an Alpenflüsse, die im Frühjahr jährlich mehr Wasser aus schwindenden Gletschern in die Täler spülen. Oder versucht man sich den ständig wachsenden, für keine Millisekunde beständigen Datenfluss vorzustellen.

Mit dem Klimawandel und der Digitalisierung nimmt die Globalisierung des Wandels richtig Fahrt auf. Für den 2015 verstorbenen Soziologen Ulrich Beck waren das mit die wichtigsten Triebkräfte für eine Veränderung, die die Welt aus den Fugen hebt. In «Metamorphose der Welt», die 2016 posthum erschienen ist, schreibt er: «Die Welt, in der wir leben, verändert sich nicht bloss, sie befindet sich in einer Metamorphose.» Die ewigen Gewissheiten moderner Gesellschaften brächen weg, etwas ganz und gar Neues trete auf den Plan.

Digitalisierung greift tief

In der Tat sorgt die Digitalisierung mit Entwicklungen rund um Roboter, künstliche Intelligenz oder Blockchain für eine kollektive Überforderung. Neue Technologien treten nicht nur an, unseren Alltag in all seinen Facetten zu revolutionieren, sondern rütteln auch an Grundfesten des menschlichen Selbstverständnisses. Die Zukunft der Arbeit ist ungewiss. Der Technikphilosoph Mads Pankow beschreibt im kürzlich erschienenen Sammelband «Machines and Robots», wie Programme Leistungen übernehmen, die wir dem Feld der Kreativität zugeordnet haben. Mit der Kreativität bröckelt eine der letzten Bastionen, in denen der Mensch sich der Maschine überlegen gefühlt hat.

 

«Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel.» Charles Darwin

 

Evolution ist Anpassung

Finde Dich damit ab, Mensch! «Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel», würde Charles Darwin als Begründer der Evolutionstheorie vielleicht entgegnen. Für ihn ist ja auch nicht die cleverste Spezies diejenige, die überlebt, sondern diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpasst. Aber ist Anpassung unsere einzige Option? Für die Evolution mag das stimmen, denn wir können sie nicht steuern. Wir sind weit davon entfernt, dass unser Körper sich durch gentechnische Eingriffe permanent verjüngt. Wir können auch unseren Geist nicht in eine imaginäre Cloud hochladen, um nach der Ablaufzeit unseres Körpers geistig weiterzuleben. Derweil schreitet die Evolution fort – opportunistischen Regeln folgend begünstigt sie denjenigen, der sich am besten mit Veränderungen arrangiert.

Vernunft als Quelle des Wandels

Doch wir Menschen haben ein Ass im Ärmel. Glaubt man Platon, besitzt der Mensch eine unsterbliche, mit dem Göttlichen verbundene Vernunft – mit ihrer Hilfe soll gelingen, die menschliche Natur zu verwandeln und zu veredeln. Weit nach Platon revolutionierte Immanuel Kant in der Aufklärung unser Denken, indem er menschliche Unmündigkeit als selbstverschuldet erklärte: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!»

Okay, gestalten wir! Beispielsweise den vom Menschen ausgelösten Klimawandel. Die Evolution hat zwar eigene Strategien gestartet, doch sie benötigt den Hebel der Generationen und läuft bei der hohen Geschwindigkeit der Entwicklungen ins Leere. Der Mensch hat zwei Ansätze: Mitigation – also die Abmilderung der Konsequenzen durch vernunftbasierte Systemänderungen – und Adaption. Im letzten Schluss zählt dazu auch die Suche nach einem neuen Planeten für den Menschen. Wenn die Menschheit sich zu grossen Veränderungen qua Vernunft durchringt, wäre Darwin Lügen gestraft und wir würden als intelligenteste Spezies für unser Überleben und das aller Lebewesen sorgen.

 

 «Die Welt, in der wir leben, verändert sich nicht bloss, sie befindet sich in einer Metamorphose.» Ulrich Beck

 

Verhaltensänderung ist schwer

Aber Stopp: Veränderung hat einen Feind, den auch schon Kant ausgemacht hat – die Faulheit. Warum Plastiktüten vermeiden, wenn sie doch so bequem sind und ich die Mikroplastikteile im Meer nicht sehen kann? Die Verhaltensänderung der Menschen gilt als die schwierigste Hürde auf dem Weg zu mehr Klimaschutz und Ressourcenschonung. Am Problembewusstsein liegt es heute nicht mehr – nur resultieren aus der Einsicht kaum Konsequenzen. Appelle und Drohszenarien verpuffen. Ist die Vernunft kaputt?

Unzufriedenheit ist der Motor

Wenn sich Menschen zu Veränderung durchringen, müssen sie Grundbedürfnisse bedroht sehen. Dazu zählen auch soziale Anerkennung und Sicherheit. Sie bilanzieren knallhart: Lohnen sich die Unsicherheiten, die mir die Veränderung bringt? Ertrag grösser Aufwand? Und oft ist schlicht der Druck nicht gross genug, weil die Situation subjektiv empfunden noch in Ordnung ist. Der Wunsch nach Veränderung ist immer begründet in nicht befriedigten Bedürfnissen, sagen Psychologen. Oder um es mit dem französischen Schriftsteller und Philosophen Jean-Paul Sartre zu formulieren: «Fortschritt ist das Werk der Unzufriedenheit.»
Das ist ein Hauptproblem bei Projekten, die etwas Abstraktes wie CO2 zum Gegenstand haben, oder gar den Status quo wahren wollen. So hat es ein Unternehmen mit sogenannten Change-Management-Prozessen schwer, wenn sie etwa dazu dienen sollen, dass es auch in Zukunft noch so gut läuft wie heute. Dass die Motivation für Veränderung hin zur Elektromobilität in chinesischen Megastädten gross ist, dürfte auch lebensbedrohlichem Smog zu verdanken sein.

 

«Fortschritt ist das Werk der Unzufriedenheit.» Jean-Paul Sartre

 

Mensch folgt dem sozial Üblichen

Veränderung kann jedoch angestossen werden, bevor der Leidensdruck unerträglich wird. Wenn beispielsweise der Aspekt der sozialen Anerkennung integriert wird. Deutlich wird das Prinzip durch viele Experimente mit sogenanntem Social Nudging des Sozialpsychologen und Überzeugungsgurus Robert Cialdini. Aufrufe zu ökologischem Verhalten hat er so gestaltet, dass eben dies sozial üblich sei. Als Menschen zum Energiesparen angeregt werden sollten, berichtete man ihnen vom Energieverbrauch und den Einsparungen ihrer Nachbarn, und bald darauf zogen sie nach.

Ständiger Aushandlungsprozess

Kritiker werfen Social Nudging Manipulation vor. Cialdini widerspricht, indem er betont: Die Menschen hätten sich zu ökologischem Verhalten bereiterklärt. Es ist ein stetiger Aushandlungsprozess, den wir nicht aus der Hand geben dürfen. Zur Debatte steht, welche Daten und Aufgaben Digitalisierungsprozesse erhalten, welche Veränderungen wir generell als wünschenswert und letztlich, wie wir unsere Rolle als Mensch definieren. Antworten darauf müssen wir als Individuen finden, aber auch einbringen. Dazu braucht es Räume wie Hochschulen, um möglichst viele Meinungen zusammenzubringen, neue Praktiken zu erdenken und Konsens zu finden. Eine Sisyphos-Arbeit, denn alles fliesst. Hoffentlich sind wir nicht zu faul und pflegen stattdessen unsere Unzufriedenheit.

 

Text: Yvonne von Hunnius
Illustration: Alina Sonea