Text: Martin Angerer & Wiebke Szymczak
30 Computer surren leise vor sich hin. Das Experimentallabor wirkt wie ein gewöhnlicher Computerraum – wären dort nicht Sichtschutzwände zwischen den einzelnen Rechnern und Anleitungen für das bevorstehende Experiment an jedem Platz bereitgelegt. Wiebke Szymczak, Doktorandin der Universität Liechtenstein, hat alles sorgsam vorbereitet, da sie heute die Durchführung der Experimente begleitet. Sie tritt zur Eingangstür, an der etwa 25 Teilnehmer dicht gedrängt warten, bis es losgeht. «Herzlich willkommen zu unserem heutigen Experiment», ruft sie in die Runde, und das Gemurmel wird leiser. Für die folgenden 90 Minuten wird die Gruppe in die Rolle von Finanzinvestoren schlüpfen und auf einem experimentellen Finanzmarkt fiktive Aktien handeln. Je besser sie dies tut, desto höher wird auch ihr Verdienst für die Teilnahme am Experiment sein. Die Forscher wollen damit herausfinden, wie Menschen finanzielle Entscheidungen treffen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren experimentelle Studien in der ökonomischen Forschung die erklärte Ausnahme. Reinhard Selten, der 1994 als bislang einziger deutschsprachiger Wissenschaftler den Nobelpreis im Bereich Wirtschaftswissenschaften erhielt, hat sich früh kritisch mit dem Homo oeconomicus auseinandergesetzt. Daraus ist eine dynamische Forschungsgemeinschaft entstanden, die experimentelle Methoden nutzt, um die Vorhersagen der «rationalen» Theorie zu überprüfen.
Neues Forschungsfeld: Experimental and Behavioral Finance
«Der Homo oeconomicus hat der finanzwirtschaftlichen Forschung viele Jahre gute Dienste erwiesen», erklärt Ass.-Prof. Dr. Martin Angerer, der das Forschungsfeld Experimental and Behavioral Finance an der Universität Liechtenstein leitet. «Nun, da wir wissen, was streng rationale Entscheider tun sollten, können wir die Modellergebnisse gezielt mit den tatsächlichen Handlungen der Menschen vergleichen. So können wir untersuchen, wann die Modelle zutreffen und wann nicht, um die bestehenden Theorien weiterzuentwickeln.»
Genau darum geht es in den Projekten, die er gemeinsam mit Szymczak durchführt. «Nur, wenn wir die Entscheidungen von echten Menschen unter realen Bedingungen beobachten, können wir wirklich verstehen, wie Finanzentscheidungen getroffen werden», meint die 26-jährige Hamburgerin, die seit September 2015 an der Universität Liechtenstein promoviert. «Die traditionelle Finanzforschung geht beispielsweise davon aus, dass ein Lottospieler niemals Versicherungen kaufen und ein Versicherungskunde niemals Lotto spielen würde. Ich wette, jeder Lottospieler, den Sie fragen, besitzt mindestens zwei Versicherungen!»
Vernetzte Forschung im Bodenseeraum zur Verhaltensökonomie
In der Bodenseeregion sind die beiden Forschenden von der Universität Liechtenstein in bester Gesellschaft. Zahlreiche Universitäten haben sich im Bereich der verhaltensökonomischen Forschung positioniert. So wurde beispielsweise die Software, die Angerer und Szymczak in ihren Experimenten verwenden, an der Universität Konstanz entwickelt.
Erst kürzlich konnten die beiden im Konstanzer Experimentallabor eine Studie mit 120 Teilnehmern abschliessen. Dabei fanden die beiden Forscher heraus, dass Menschen risikofreudiger handeln, wenn sie mit virtuellem Geld statt mit Bargeld ausgestattet werden. Im Hinblick auf die mancherorts andiskutierte Abschaffung von Bargeld, kann diese Einsicht auch für die Gesetzgebung wichtig werden. «Ich sehe grosses Potenzial, Experimente auch für die Entwicklung effektiver Gesetze und Regulierungen einzusetzen», stellt Angerer einen wichtigen Anwendungsbereich vor. An der Universität Liechtenstein arbeitet man bereits mit Hochdruck daran, dies umzusetzen.