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Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung

Die ökoproduktiven Regionen in den Alpen sind wichtig für die Landwirtschaft, die Biodiversität und die Lieferung von Rohstoffen wie etwa Holz. Aber sie spielen auch eine zentrale Rolle in der Speicherung von CO2. Die Urbanisierung und der Klimawandel bringen nun das Gleichgewicht durcheinander. Aus CO2-Speichern werden CO2-Emittenten, sagt Carmen de Jong, Geographieprofessorin an der Universität Savoyen in Frankreich.

Die ökoproduktiven Regionen in den Alpen sind wichtig für die Landwirtschaft, die Biodiversität und die Lieferung von Rohstoffen wie etwa Holz. Aber sie spielen auch eine zentrale Rolle in der Speicherung von CO2. Die Urbanisierung und der Klimawandel bringen nun das Gleichgewicht durcheinander. Aus CO2-Speichern werden CO2-Emittenten, sagt Carmen de Jong, Geographieprofessorin an der Universität Savoyen in Frankreich.

Interview: Elana Caro, St. Gallen


Sie haben am Liechtenstein Kongress über ökoproduktive Alpenregionen gesprochen. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Carmen de Jong: Eine ökoproduktive Region kann auf zwei Weisen definiert werden, auch wenn es dabei eine gewisse Überschneidung gibt. Im traditionellen Sinn produziert eine ökoproduktive Region Boden, Wasser und Luft und dient damit den Menschen, den Tieren und der Umwelt. Aber sie ist auch als CO2-Speicher nützlich. Dazu dient ein breites Spektrum von Ökosystemen, das von den Wäldern über den Boden, Seen bis zu den Mooren reicht.

Es ist bekannt, dass Wälder wichtige CO2-Speicher sind. Wie speichern Boden, Seen und Moore CO2?
Moore sind die weltweit effizientesten CO2-Speicher, weil sie anders als dauerhaft CO2 speichern können. Deshalb ist es so wichtig, sie zu schützen. Aber ihre Zerstörung ist weniger sichtbar als die Zerstörung von Wäldern, und deshalb weniger einfach zu verstehen. Es gibt viele kleine, leicht verwundbare Moore, die in abgelegenen Alpenregionen verboren sind. Bisher gibt es keine wirklich umfassende Datenbank oder einen echten Überblick über die Moore in den Alpen. Deshalb ist es schwieriger zu sagen, ob sie noch da oder schon verschwunden sind.
Der Boden braucht tausende Jahre, um sich zu bilden. Wenn er einmal weg ist, dann ist der Schaden mehr oder weniger irreparabel. Ein Wald dagegen kann in ein paar Jahrzehnten wieder nachwachsen.

Wie werden Moore und Böden zerstört?
Wir stehen einer doppelten Herausforderung gegenüber. Der Klimawandel bedroht Flüsse, Böden und Moore, weil die grosse Häufigkeit von Dürren und hohen Temperaturen einen Wandel des Systems zur Folge hat. Selbst Moore und kleine Seen auf grosser Höhe trocknen im Sommer aus. Damit wird CO2 freigesetzt und die künftige Speicherung von CO2 verhindert.
Die zweite Herausforderung ist die Ausbreitung der Menschen durch die Urbanisierung, den Strassenbau, Parkplätze, Bauten und ähnliches. Moore zum Beispiel werden oft als Störungen oder als unproduktive Regionen gesehen. Sie werden oft trockengelegt oder für Projekte wie Ferienhäuser und Skiresorts genutzt. Der Skitourismus wiederum braucht Kunstschnee, weil es wegen des Klimawandels nicht mehr genug Naturschnee gibt. Dafür braucht es viel Wasser, also werden grosse Wasserreservoirs gebaut, und das oft in Mooren. Als Folge davon sind um die grossen Skiresorts 70 Prozent der Moore aufgrund der menschlichen Tätigkeit verlorengegangen.
Was die Böden angeht, sind die Erosion und der Aushub von Böden die wichtigsten Feinde. Bodenerosion kann man mit blossem Auge sehen. Der Aushub für das Bauwesen dagegen – etwa für Skiresorts, Strassen und Parkplätze – ist eher ein unsichtbarer Feind, weil man nicht sieht, wieviel verlorengegangen ist.

Wie kann man die Betroffenen überzeugen, dass ökoproduktive Regionen wie etwa Moore wichtig sind?
Die Wissenschaftler müssen mehr proaktiv werden. Denn sie wissen am besten, was in den Mooren geschieht. Sie können die Wirkung des Klimawandels beobachten. Gleichzeitig müssen Politiker vermehrt hinschauen. Das braucht Bildung und ein stärkeres Bewusstsein.
In diesem Jahr war ich viel unterwegs, um auf die Bedeutung der Moore in Frankreich hinzuweisen. Dabei wurde ich von Gruppen wie FRAPNA (Fédération Rhône-Alpes de protection de la nature, Umweltschutzorganisation der Region Rhone-Alpes, ec) unterstützt. Aus den Fragen im Publikum konnte ich schliessen, dass viele Menschen empört sind, wenn es keine strikteren Regeln und Vorschriften gibt, um eine Trockenlegung und Zerstörung der Moore zu verhindern.

Hören Politiker heute eher zu?
Umweltschutzgruppen laden Politiker zu solchen Veranstaltungen ein. Aber nicht immer kommen die Politiker auch. Und diejenigen, die kommen, sind oft schon interessiert. Aber gemäss den Reaktionen, die ich von meinen Kollegen erhalte – den Umweltwissenschaftlern und Botanikern, die sich mit den Mooren beschäftigen -, hatten Politiker und Betreiber von Skigebieten bis vor kurzem nicht die geringste Idee von der Bedeutung der Moore. Ein Grund ist sicherlich, dass es schwierig ist, den Geldwert solcher Ökosystem zu beziffern, weil sie nicht für landwirtschaftliche Nutzungen wie etwa die Viehzucht zur Verfügung stehen.

Die Immobilienentwicklung in den Alpen dreht sich meist um den Tourismus. Die lokale Bevölkerung fürchtet, dass sie ihre Arbeitsplätze verliert, wenn diese Entwicklung verlangsamt wird. Wie kann man die Bedürfnisse der Menschen mit denen der Umwelt in Übereinstimmung bringen?
Das ist ein klassisches Argument der Betreiber der Skiresorts. Sie behaupten, dass die Bevölkerung in die grossen Städte nahe den Alpen abwandert, nach München, Mailand oder Lyon. Nur die Entwicklung von Skigebieten könne das verhindern, lautet die scheinbar magische Formel. So kämen die Arbeitsplätze zurück und die Leute würden in den Berggebieten wohnen bleiben.
Die Wirklichkeit ist ganz anders. Der Skitourismus ist eine Saisonbranche. Sie konzentriert sich gerade mal auf zwei bis drei Monate. Als Wissenschaftlerin würde ich das nicht gerade als eine nachhaltige Branche sehen. Und das Personal, das in dieser Branche während der Skisaison arbeitet, sind normalerweise ausländische Saisonarbeiter. Es ist deshalb ein Mythos, dass diese Branche Arbeitsplätze schafft.
Der wirkliche Weg nach vorne wäre es, Dienstleistungen in den anderen Jahreszeiten zu schaffen, und es gibt viele Beispiele, wo dies gut funktioniert.

Welche?
In einer Reihe von Regionen in Österreich und Norditalien, etwa Tirol und Südtirol, begleiten Festivals die verschiedenen Jahreszeiten, wie etwa die Blumenfestivals im Frühjahr und im Sommer, und die Äpfelfestivals im Herbst. Der Skitourismus dagegen kümmert sich nicht um Jahreszeiten, da er nicht an den Klimawandel angepasst ist und den daraus folgenden Problemen mit dem Schnee und den Temperature.
Schauen Sie sich den Sommertourismus an. Die Leute gehen wandern oder nehmen an ökologischen oder geologischen Wanderungen teil. Sie brauchen dafür oft Bergführer und kommen in kleineren Hotels unter, die den Leuten vor Ort gehören. Das könnte noch weiterentwickelt werden. Der Wintertourismus dagegen ist finanziell riskant, weil er grosse Investitionen braucht – ohne die Sicherheit, dass auch genug Touristen kommen. Für den Sommertourismus dagegen brauchen Sie nicht einmal ein Zehntel dieser Summen. Das heisst, dass der Gewinn der gleiche sein kann, auch wenn weniger Touristen kommen.

Selbst wenn wir unser Verhalten ändern und die ökoproduktiven Regionen besser schützen – können wir etwas gegen den Klimawandel tun?
Die deutschsprachige Region der Alpen ist dank der Initiative der liechtensteinischen Raumplanungsministerin Renate Müssner mit der sehr klugen Idee der CO2-neutralen Alpen bis 2050 gekommen. Jedes Jahr werden durch die Landwirtschaft und die Landnutzung (ohne den Verkehr) in den Alpen rund 16 Millionen Tonnen CO2 ausgestossen. Das ist ein Drittel der Gesamtemissionen. Das meiste davon kann in Wäldern, Böden und Mooren aufgefangen werden. Deshalb ist es so wichtig, die Zerstörung der Moore zu stoppen und sie stattdessen wieder herzustellen. Die Schweiz, Österreich und Deutschland tun das nun. Wir haben einige beeindruckende Beispiele anlässlich der Liechtenstein Konferenz 2010 gesehen, als wir uns das Moor in Gamperfin in der Schweiz angeschaut haben.

Ist die Idee der CO2-neutralen Alpen realistisch?
Auf jeden Fall. Aber sie verlangt, dass man alles tut, was möglich ist, um den CO2-Ausstoss zu verringern. Wir müssen unsere Wälder besser verwalten und sie effizienter für Brennstoffe nutzen, und wir müssen die Bodenerosion stoppen. Wir müssen auch neue Gesetze zum Verkehr und Tourismus in den Bergregionen einführen, besonders auf EU-Niveau. Das wird nicht leicht sein, weil die Ortschaften und die Tourismusdestinationen in den Bergen oft so abgelegen sind, dass Autos oft das einzige Transportmittel sind. Es wird also auch ein verändertes Verhalten der Menschen brauchen.
Hinzu kommt die Herausforderung Wasser. Das wird aus meiner Sicht noch massiv unterschätzt. Es gibt kein Wassermanagement in den Alpen. Die touristische Entwicklung ruft nicht nur Wasserknappheit und lokale Wasserkonflikte hervor, sondern verschmutzt auch das Ökosystem, wenn ungenügend gereinigtes Wasser auf die Skipisten gepumpt wird, um daraus Kunstschnee herzustellen. Es braucht striktere Regelungen für die Wasserbehandlung und die Nutzung von Grauwasser. Und es braucht neue Regeln für die Einsparung von Wasser.


Zur Person:
Carmen de Jong ist Professor für Geographie an der Universität Savoyen in Grenoble. Sie war wissenschaftlicher Direktor des Berginstituts. De Jon ist Mitglied des Steuerungskomitees der Europäischen Dialogplattform für die Anpassung an den Klimawandel. Sie hat unter anderem das EU Projekt „Strategien für das Wassermanagement gegen die Wasserknappheit in den Alpen“ koordiniert. Sie hat 1993 an der Freien Universität Berlin doktoriert und sich 2005 an der Universität Bonn habilitiert.