In der digitalen Gesellschaft verändert sich das traditionelle analoge Verständnis grundlegend. Dank der Digitalisierung entstehen neue Prozesse, neue Geschäftsmodelle und neue Infrastrukturen, zugleich aber auch neue Handlungsmöglichkeiten und neue Nutzerverhältnisse und -verhaltensweisen. Dies führt zu entsprechenden Transformationsprozessen im rechtlichen Bereich. Die Veranstaltung beleuchtete insbesondere die strafrechtliche Seite der Digitalisierung – ihre Risiken, ihre Chancen, ihre Auswirkungen sowie ihre Herausforderungen.
Nach der Begrüssung der ReferentInnen und TeilnehmerInnen durch Prof. Dr. Konstantina Papathanasiou, LL.M., wurde in sechs Referaten auf die Schnittstelle von Wirtschaftsstrafrecht und Digitalisierung eingegangen. Diese boten ein spannendes Spektrum von hochaktuellen forschungs- und praxisrelevanten Aspekten.
Prof. Dr. Malte Gruber – «Carpe Diem: Lehren für das Leben im Metaversum»
Im ersten Vortrag beschäftige sich Prof. Dr. Malte Gruber, Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Immaterialgüterrecht und Recht der neuen Technologien der Universität Luzern, mit der digitalen Währung «Diem». Insbesondere ging er der Frage nach, was digitale bzw. immaterielle Währungen prinzipiell von analogen bzw. materiellen Währungen unterscheidet, liege beiden doch eine Form der «creatio ex nihilo» zugrunde. Nicht der materielle Aspekt verleihe einer Währung Wert, sondern allein das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer. Insofern stelle die Immaterialität digitaler Währungen kein Hindernis bei ihrer langfristigen Etablierung als vertrauenswürdiges und stabiles Zahlungsmittel dar. Es fehle jedoch bis heute an einer einheitlichen Definition der Rechtsnatur von digitalen Währungen.
RA Dr. Thomas Nägele, LL.M. – «Warum nutzen Cyberkriminelle bitcoin?»
Im zweiten Vortrag nahm Dr. Thomas Nägele, LL.M., Managing Partner der NÄGELE Rechtsanwälte GmbH in Vaduz, eine Bestandsaufnahme von bitcoin als Mittel von Cyberkriminalität vor. Die Attraktivität von Kryptowährungen für kriminelle Aktivitäten liege vor allem in ihrer (Pseudo-)Anonymität, Dezentralität, Unreguliertheit, Transaktionsgeschwindigkeit, Handelbarkeit und Fungibilität. Gerade der Aspekt der Anonymität sei aber von Kriminellen lange falsch eingeschätzt worden, so Nägele. Durch den sukzessiven Ausbau der Strafverfolgung und AML, KYC und Compliance-Erfordernissen werde bitcoin immer unattraktiver und Kriminelle würden auf andere, privatere Kryptowährungen umsteigen.
Prof. Dr. Pavel Laskov – «Digitalisierung. Cybercrime. Cyberconflict.»
Prof. Dr. Pavel Laskov, Inhaber des Hilti Lehrstuhls für Daten- und Anwendungssicherheit am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Liechtenstein, ging in seinem Vortrag auf die Rolle von digitalen Technologien in bewaffneten Konflikten ein. Auch im aktuellen Krieg in der Ukraine kämen digitale Technologien von verschiedensten Akteuren zur Anwendung, seien es Hacker-Angriffe auf zivile und militärische Infrastruktur oder unbemannte militärische Drohnen und Roboter. Weiters komme es zunehmend zu Scam-Versuchen durch gefälschte E-Banking-Portale, um Zugangsdaten zu erschleichen. Auch Liechtenstein könne im globalen digitalen Aufrüsten eine Rolle zukommen, nachdem das «Low Orbit Satelliten-Projekt» des Unternehmens Rivada Space Networks im Fürstentum eine Frequenzzuteilung für nicht-geostationäre Satellitensysteme beantragt hat. Laskov mahnte zum Abschluss seines Vortrages im Hinblick auf die digitale Innovation, die mit Wettrüsten einherginge, zu moralischer Verantwortung.
Prof. Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW-Madison) – «Programmierer im Notstand»
Im vierten Vortrag befasste sich Prof. Dr. Liane Wörner, Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie der Universität Konstanz, mit Fragen der strafrechtlichen Verantwortung von Programmierern.
In Bezug auf «Künstliche Intelligenz und Autonomes Fahren» erläuterte Wörner das Dilemma des sog. «Weichenstellerfalls», eines psychologischen Experiments, bei dem der Weichensteller mehrere Menschenleben nur auf Kosten anderer Menschenleben retten kann, und warf die Frage auf, ob sich die Grundsätze dieses Falls auf Programmierer von autonomen Systemen übertragen lassen.
Programmierer, so das Fazit der Referentin, seien einem anderen psychischen Druck ausgesetzt als der hypothetische Weichensteller, da sie lediglich im Vorhinein abstrakt eine Entscheidung zu treffen hätten. Daher könne die Programmierung einer Risikominimierung für Beteiligte, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme Unbeteiligter, nicht rechtmässig sein.
Jun-Prof. Dr. Dominik Brodowski – «Das 2. Zusatzprotokoll zur Cybercrime-Konvention: Eine digitale Revolution des Rechtshilferechts?»
Dr. Dominik Brodowski, Juniorprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes, analysierte im fünften Vortrag das 2. Zusatzprotokoll zur Cybercrime-Konvention, das ab dem 12. Mai 2022 zur Unterzeichnung gelangte. Das Zusatzprotokoll soll eine mehrfache Digitalisierung begünstigen: Digitalisierung der Arbeitsprozesse in der Strafjustiz, des Gegenstandes des Strafverfahrens und des Strafverfahrens selbst.
Sein Befund lautete, dass das 2. Zusatzprotokoll wichtige Aspekte der Digitalisierung des Strafverfahrens und des Rechtshilferechts beinhalte, jedoch gewiss keine Revolution einläute und in Zukunft um weitere Zusatzprotokolle erweitert werden müsse. Als Kritikpunkt führte er u.a. eine Verpolizeilichung des Rechtshilferechts an.
Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn – «Organisierte Kriminalität und Cybercrime – Fiktion oder Realität?»
Prof. Dr. Prof. h.c. Arndt Sinn, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung der Universität Osnabrück, hielt seinen Vortrag online über Zoom. Er erläuterte den Begriff der Organisierten Kriminalität (OK) im Zusammenhang mit Cyberkriminalität und die Schwierigkeiten, die sich bei der Erfassung von Cyberkriminalität als OK ergäben. Zum einen sei die Definition von OK in Deutschland veraltet, die Datenlage dünn und die Erfassung von Kriminalität als OK schwierig, v.a., wenn sie als Cybercrime-as-a-service (CCaaS) in Erscheinung trete. Zum anderen müssten sich Cyberermittlungen häufig mit Symptombekämpfung zufriedengeben und könnten nicht zu den tatsächlichen Organisationen und Netzwerken vordringen.
Am 15. November 2022 folgt unter dem Titel «Digitalisierung II» der zweite Teil der diesjährigen Vortragsreihe. Für die freundliche Unterstützung bedankt sich der Lehrstuhl für Wirtschaftsstrafrecht, Compliance und Digitalisierung bei NÄGELE Rechtsanwälte.