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Wir leben in einer neuen industriellen Revolution

Europa riskiert, in der Netzgesellschaft von den Schwellenländern überholt zu werden, sagt Dennis Pamlin, einer der wichtigsten Vordenker der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT). Der Westen sieht eher Probleme als Chancen. Die Schwellenländer dagegen profitieren mit neuen Geschäftsmodellen von der Netzwirtschaft.


Europa hat Mühe mit neuen Geschäftsmodellen – Interview mit Dennis Pamlin

Europa riskiert, in der Netzgesellschaft von den Schwellenländern überholt zu werden, sagt Dennis Pamlin, einer der wichtigsten Vordenker der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT). Der Westen sieht eher Probleme als Chancen. Die Schwellenländer dagegen profitieren mit neuen Geschäftsmodellen von der Netzwirtschaft.

Interview: Steffen Klatt

Grüne Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) sind heute ein grosses Thema. Geht es dabei um den Ersatz alter Computer durch neue und energieeffizientere?

Dennis Pamlin: Die Ökologisierung der ICT ist nur die eine Seite. Dabei geht es unter anderem um die Energieeffizienz der Geräte. ICT-Geräte machen heute etwa 2 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses aus. Auf der anderen Seite geht es um eine Ökologisierung mit ICT. Dabei werden Informations- und Kommunikationstechnologien wie auch Netzwerke genutzt, um die restlichen 98 Prozent des CO2-Ausstosses zu verringern.

Es geht also um mehr als um die Energieeffizienz der Geräte?

Wir im Westen leben in einer problemgetriebenen Welt. Wenn wir sagen, wir wollen etwas „grüner“ machen, dann sehen wir das als ein Problem, das wir lösen müssen. Stattdessen sollten wir über Dienstleistungen reden, die wir anbieten können. Es geht um neue Chancen. Wir leben in einer neuen industriellen Revolution. Die erste industrielle Revolution drehte sich um Stahl und fossile Energieträger. Jetzt leben wir in einer vernetzten Gesellschaft, die auf Wissen basiert ist und darauf, wie wir Dinge interpretieren. Wir wissen nicht, was wir das selber schaffen und was das Ergebnis dieser Revolution sein wird. Das ist aufregend.

Wo steht diese neue industrielle Revolution jetzt?

Wir stehen an einem Wendepunkt. Während der vergangenen zwanzig Jahre haben wir die Infrastruktur aufgebaut, die Fähigkeit, die alte Gesellschaft klüger zu machen. Nun schauen wir nach vorn. Schauen Sie auf die Art und Weise, wie Informationen verbreitet werden. Jeder kann heute ein pdf generieren und jeder andere kann es lesen. Aus der Sicht der Nutzer ist das ähnlich wie bisher. Aber im Hintergrund ist es völlig anders geworden. Wer verdient damit Geld und welche Anreize gibt es für die Nutzer mitzumachen? Das hat völlig geändert. Ein ebook ist heute eine Datenbank, in der man sehen kann, was andere Leute lesen.
In der alten Wirtschaft haben ein paar Leute kontrolliert, was veröffentlicht wurde. Heute kann jeder veröffentlichen – auch wenn die gleichen Leute wie früher es gern weiter kontrollieren würden.

Wo kommt das Geld für den Wandel her?

Auf der einen Seite gibt es das neue Phänomen der offenen Quelltexte und Daten wie bei Linux und Wikipedia. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dann können viele Leute jeder ein bisschen dazu beitragen und gemeinsam etwas Grosses schaffen. Ein Teil der Antwort liegt also darin, Leidenschaft ins Spiel zu bringen. Dabei wird Geld hineingesteckt, das in der alten Wirtschaft verdient worden ist, oder ein Teil der Freizeit, um die neue Wirtschaft aufzubauen. Das ist eigentlich etwas ganz normales: Jemand investiert, um Neues zu schaffen.
Auf der anderen Seite hilft ICT herauszufinden, was wir wirklich wollen. In der alten zentralisierten Wirtschaft wurde nur gemessen, was die Menschen ausgeben. Damit haben wir nur auf den in Geld gemessenen Teil der Wirtschaft geschaut. Heute können Dinge geschaffen werden, die in der alten Wirtschaft keine Wertschätzung gefunden haben. Dafür gibt es neue Formen der Finanzierung wie etwa diejenige durch grosse Gruppen etwa im Internet. Plattformen wie Kiva (Finanzierung von Mikrofinanzprojekten durch grosse Gruppen, stk) und Kickstarter (Finanzierung von kreativen Projekten durch grosse Gruppen, stk) sind Beispiele, welche Möglichkeiten die vernetzte Wirtschaft bietet. Ich selber habe ein Projekt in Schweden, das neuen Gruppen die Möglichkeit bieten soll, sich Gehör zu verschaffen und neue Ideen und Projekte zu verwirklichen.
Drittens sind manche Prinzipien des gegenwärtigen Systems einfach nicht länger gültig. In der Industriegesellschaft habe ich Ressourcen für mich gebraucht, und je mehr Leute die Ressourcen in Anspruch nahmen, desto schlimmer wurde die Lage. Dafür sind Autos ein gutes Beispiel. Eine vernetzte Gesellschaft braucht nicht zwingend immer mehr Ressourcen. Der Wert der Ressourcen steigt, je mehr Leute sie benutzen. Videokonferenzen sind ein Beispiel dafür.

Ist die vernetzte Gesellschaft von Natur aus grüner?

In einem bestimmten Mass ja. Wir können die gleichen Geräte für verschiedene Anwendungen benutzen. Wir können Computer benutzen, um Dokumente zu veröffentlichen, um Leute anzurufen oder unsere Bankgeschäfte zu tätigen. ICT ist ein Katalysator. Es kann helfen, diese neue, klügere Welt zu schaffen.
Aber ICT kann auch die ressourcenintensive Wirtschaft weiter beschleunigen. Heute sehen wir beide Tendenzen. Reisen sind dafür ein gutes Beispiel: Auf der einen Seite erlauben Videokonferenzen und das Büro zuhause, auf Reisen zu verzichten. Auf der anderen Seite macht die neue Technik Reisen leichter, so dass die Leute mehr reisen.

Wer sind die Treiber des Wandels?

Es gibt eine klaren Treiber. Jede neue Wirtschaft dreht sich um Netzwerke. Wer wirklich neues schaffen will, braucht Wissen aus verschiedenen Branchen. Diejenigen, die den Wandel bringen, gehören neuen Netzwerken an. Aber das alte System hält die Leute in der alten Welt. Das beginnt in der Politik: Es gibt zum Beispiel Ministerien für Transport, nicht aber für Mobilität. Das führt dazu, dass Autobahnen nicht zusammen mit neuen Breitbandverbindungen geplant werden. Wir müssen uns davon verabschieden, uns um die alten Bedürfnisse herum zu organisieren. Stattdessen müssen wir uns auf das konzentrieren, was wir wirklich brauchen.

Braucht es dafür eine Revolution?

Neue Netze entwickeln sich schrittweise. Erst entwickeln sie sich in einzelnen Bereichen und dann kommen sie plötzlich zusammen. Von aussen mag das dann wie eine Revolution aussehen. Aber von innen ist das Neue ganz natürlich gewachsen.

Wo findet der Wandel heute statt?

Auf der technologischen Seite sind die Epizentren noch immer in San Francisco und alten Zentren der Innovation wie Tokio. Aber wenn man sich die tatsächlichen Geschäftsmodelle anschaut, dann finden sie sich zunehmend in den Schwellenländern.

Warum?

Sie sind weniger an die alte Wirtschaft gebunden. Damit ist es für sie einfacher, die Dinge auf eine neue Art zu sehen. Sie sind offen für Neues.
Zweitens müssen Regierungen in Schwellenländern stärker über Ressourceneffizienz nachdenken, nicht aus Umwelterwägungen heraus, sondern wegen der nationalen Sicherheit. China ist das einzige Land, das ich kenne, das bei der langfristigen Planung die Kosten der militärischen Sicherung in den Ölpreis einbezieht. Das mag mit ein Grund sein, warum China bei der Entwicklung und dem Aufbau der erneuerbaren Energien führt. Wir im Westen neigen dazu zu vergessen, dass jedes Fass Öl auch dazu zwingt, die Infrastruktur militärisch zu schützen. Erneuerbare und dezentralisierte Energielösungen sind daher schon jetzt billiger. Wir müssen nur die Kosten transparent machen.

Gibt es in einem Land wie China genug Freiheit für echte Innovation?

Aus der Sicht der alten Wirtschaft: nein. Aber seit Blogs und das Internet generell eine so zentrale Rolle spielen, ist es für das alte System schwer, den Informationsfluss zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass in China der Informationsfluss für Innovationen sogar ermutigt wird. Die Leute sind auf Wandel eingestellt. Hier dagegen im Westen haben viele Menschen Angst vor Veränderung. Das ist das grösste Hindernis für Innovationen, besonders in Europa. Wir klammern uns an das alte.

Ist Europa ein verlorener Fall?

Überhaupt nicht. Europa hat eine beeindruckende Geschichte der Meinungsfreiheit und der Innovation. Die Menschen in den USA, Indien und China haben zudem Mühe, über ihren nationalen Tellerrand zu schauen. In Europa denken die Menschen dagegen auf unterschiedlichen Ebenen: derjenigen ihrer Stadt, ihrer Region, ihres Landes, Europas und dann der Welt. Wenn Europäer die richtigen Rahmenbedingungen haben, dann steht ihre Chance gut, dass sie eine Rolle im globalen Wandel spielen. Aber Europa hat Mühe, neue Geschäftsmodelle zu akzeptieren.

Wie können neue Geschäftsmodelle geschaffen werden?

Der grösste Wandel ist derjenige von Produkten zu Dienstleistungen. Unternehmen, die heute etwa Kühlschränke anbieten, sollten künftig frische Lebensmittel bieten. Denn das ist, was die Kunden in der Küche wirklich brauchen. Ein Schritt dahin könnte sein, dass die Hersteller Kühlschränke nicht mehr verkaufen, sondern vermieten. Das würde ihnen auch erlauben festzustellen, wann es Zeit ist, neue Kühlschränke einzusetzen. In einem nächsten Schritt könnten die gleichen Unternehmen lokale Frischprodukte verkaufen. Heute leben wir in einer nicht optimalen Wirtschaft, weil die Leute Produkte kaufen, aber nicht die Dienstleistungen bekommen, die sie eigentlich brauchen.
Amazon.com ist ein konkretes Beispiel, wie Dienstleistungen zu Innovationen geführt haben. Erst hat das Unternehmen gemerkt, dass es für Leser besser ist, wenn sie Bücher im Internet kaufen. Dann hat das Unternehmen gemerkt, dass die Leser eigentlich die Freude am Lesen kaufen wollen – und diese ist nicht gebunden an die gedruckte Ausgabe. Daher hat Amazon das elektronische Lesegerät eingeführt. Die Technologie dafür gab es bereits. Sony hatte solche Lesegeräte schon ein Jahrzehnt lang im Angebot. Aber Amazon hat dafür ein Geschäftsmodell geschaffen.

Sie haben von einer neuen industriellen Revolution gesprochen. Hat der Wandel gerade begonnen?

Wir stehen mitten in dieser Revolution, auch wenn viele Menschen in Europa noch so tun, als stände sie uns erst bevor. Diese alte Perspektive führt dazu, dass viele Investitionen noch zur Zerstörung des Planeten führen. Europa gerät so in eine Situation, in der es Kriege und Konflikte um natürliche Ressourcen geben wird.
Der Wandel findet statt, wir müssen nur unsere Augen öffnen. Wir haben das Glück, in einer der grössten Transformationsprozesse der Geschichte zu leben, in dem viele Trends zusammenkommen. Damit tragen wir auch eine grosse Verantwortung. Es ist an der Zeit aufzuwachen und die neuen Möglichkeiten zu nutzen.

Zur Person:
Dennis Pamlin ist Gründer und Chef von 21st Century Frontiers, einem unabhängigen Beratungsunternehmen. Er arbeitet für Unternehmen, Regierungen und nichtstaatliche Organisationen als ein strategischer Berater für Technologie und Innovation. Von 1999 bis 2009 war er Politikberater bei der Umweltschutzorganisation WWF. Pamlin ist Direktor des Low Carbon Leaders Project, einem Projekt im Rahmen des UN Global Compact. Er ist korrespondierendes Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften.