Am zweiten hybrid erfolgten Termin analysierte und erläuterte Prof. Dr. Papathanasiou zentrale Fragen des grenzüberschreitenden Beweistransfers anlässlich eines Falles am Puls der Zeit: des EncroChat-Falles. Die Software EncroChat – auch das «WhatsApp der Kriminellen» genannt – diente den Nutzern bei der Planung und Durchführung schwerer Verbrechen. Die Software konnte 2017 von französischen Behörden gehackt werden, was zunächst zur Einleitung von Ermittlungen gegen mehrere Verdächtige in Frankreich führte. Zielpersonen der durch französische Behörden durchgeführten Überwachung hielten sich allerdings auch auf deutschem Hoheitsgebiet auf. So wurden mehrere Verfahren auch in Deutschland eingeleitet. Insbesondere wurden dem BKA über Europol Erkenntnisse zugeleitet, aus denen sich ergab, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten (insbesondere Einfuhr von und Handel treiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen) unter Nutzung von Mobiltelefonen mit der Verschlüsselungssoftware EncroChat begangen wurden.
Die Fragen, die sich stellen, sind von höchster Relevanz. Etwa, ob die Beweiserhebung in Frankreich nach allen massgeblichen Rechtsvorschriften stattgefunden hat, ob deutsche Gerichte überhaupt befugt sind, diese Rechtsmässigkeit zu prüfen, ob die Regelungen vor allem über die europäische Ermittlungsanordnung berücksichtigt wurden, ob letztendlich von einem Beweisverwertungsverbot nach der deutschen StPO auszugehen ist. Am 2.3.2022 hat sogar der deutsche Bundesgerichtshof ein wegweisendes und gründliches Urteil gesprochen, das die Nutzung der EncroChat-Daten erlaubt. Die Problematik bleibt aber noch eine Weile offen – man kann gespannt sein, was EGMR oder EuGH dazu sagen werden.
Vor der Schilderung des EncroChat-Falles war es ausserdem sinnvoll, die Entwicklung des labyrinthischen regulatorischen Rahmens zu schildern und auf das sachliche Problem der «Verkehrsfähigkeit» von Beweisen im Allgemeinen einzugehen. Denn erst vor diesem Hintergrund könnte auch der aktuelle EncroChat-Fall richtig eingeordnet und vollumfänglich erläutert werden.
Tenor des Vortrages war, dass es sich bei der Frage grenzüberschreitender Strafverfahren um eine hochkomplexe Materie handelt, die alle beteiligten Parteien vor grosse Herausforderungen stellt. Gleichzeitig sind die damit verbundenen Fragen von grosser Wichtigkeit und Aktualität, da wirtschaftskriminelles Handeln fast immer grenzüberschreitend stattfindet.
Der Fokus der beiden Themenabende, die im Jahr 2022 veranstaltet wurden, lag auf Begriffen, die gerade in den letzten Jahren ins Zentrum des technischen und rechtlichen Diskurses gerückt sind: Blockchain, Cybercrime und die Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Strafrecht. Der erste Termin zum Thema «Blockchain und Strafrecht» fand online über Zoom statt. Der zweite Themenabend des Lehrstuhls war ein gelungener Abschluss der Reihe mit vielen (grösstenteils digital zugeschalteten) Teilnehmenden aus der gesamten Li-D-A-CH-Region.