Text: Christine Rhomberg
Foto: Anna Janson
Vor mehr als vierzig Jahren gründete der venezolanische Ökonom und Musiker José Antonio Abreu ein Projekt, das zur Lösung der sozialen Probleme seines Landes beitragen sollte. Ausgangspunkte waren die Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft einer Gesellschaft, in der damals mehr als 70% der Menschen unter der Armutsgrenze lebten. Mangelnde Qualität in der Schulbildung und hohes Aggressionspotenzial schon unter sehr jungen Menschen waren Hauptauslöser für Abreus Initiative, ein Musik-Sozialprogramm, das heute weltweit unter der Kurzbezeichnung «El Sistema» bekannt ist.
Die Idee scheint verblüffend einfach und klar: Durch gemeinschaftliches Musizieren – das Singen in Chören und das Erlernen eines Instruments in der Gemeinschaft eines Orchesters – sollten Kinder und Jugendliche in einem neuen und anderen Wertebewusstsein aufwachsen. Von Beginn an Mitglied einer Gruppe, realisieren sie, dass sie gebraucht werden. Das Musizieren in der Gruppe fördert den Gemeinschaftssinn, entwickelt Verantwortungsbewusstsein füreinander und lehrt das gegenseitige Zuhören. Ganz selbstverständlich entwickeln sich auch Disziplin, Verlässlichkeit, Respekt und Konzentrationsfähigkeit. Werte also, die, welchen Beruf auch immer diese Menschen einmal ausüben werden, hilfreich sind für die persönliche Entwicklung.
Doch damit nicht genug: Auch die schulischen Leistungen verbessern sich, wachsendes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl wirken sich auf das familiäre und gesellschaftliche Umfeld aus und haben so eine unmittelbare Ausstrahlung weit über das Individuum hinaus.
Ein gemeinschaftlicher Ansatz, der stark macht und der die Teamleistung über die Leistung des Einzelnen stellt, ohne diesen jedoch aus der Verantwortung zu entlassen oder individuell zu unterfordern. Im Orchester und im Chor weiss jeder Einzelne, wo sein Platz ist und dass er sein Bestes geben muss, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Zudem übernehmen fortgeschrittenere Musiker die Verantwortung für die jüngeren Kollegen, unterstützen sie und tragen damit wesentlich zu deren positiver Entwicklung bei.
Über 2 Millionen Jugendliche sind in den vergangenen vierzig Jahren durch dieses Programm gegangen, und aktuell sind es über 850 000 Kinder und Jugendliche, die in den zahlreichen Musikschulen Venezuelas ein Instrument lernen oder im Chor singen. Und diese Philosophie von «Sozialem Wandel durch Musik» hat Schule gemacht – in unzähligen Projekten auf allen Kontinenten dieser Erde sind ähnliche Initiativen entstanden, angepasst an die Bedürfnisse des jeweiligen Landes. Sie dienen der Integration, stiften Frieden zwischen verfeindeten Gruppen, bauen Brücken und schaffen Empathie für die Bedürfnisse des Anderen.
Im April 2017 trafen sich 300 Kulturschaffende, NGOs und Opinion Leaders aus der ganzen Welt in Abu Dhabi zum Culture Summit 2017. Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Frage nach der Relevanz der Kultur, wenn es um die Lösung der dringlichsten Probleme unserer Gesellschaft geht. Und es ist richtungsweisend, dass diese Konferenz unter anderem «El Sistema» und das «West-Eastern Divan Orchestra», ein musikalisches Friedensprojekt, in dem israelische, palästinensische und andere arabische Musiker zusammenarbeiten, mit dem «Cultural Diplomat Award» ausgezeichnet hat.
Man mag das werten als deutliches Zeichen einer weltweiten Zustimmung zur ursprünglichen Idee von José Antonio Abreu, aber auch als Geste, der weitere Taten folgen müssen. Der Amerikaner Geoffrey E. Walker bringt es auf den Punkt: «Um die grössten Probleme unserer Welt zu lösen, braucht es Ensembles, nicht Solisten.» Handeln wir danach – nicht nur in der Musik!
*Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Juni 2017 Ausgabe des Denkraum Magazins.