Interview: Heike Esser
Das bedingungslose Grundeinkommen geistert seit rund 10 Jahren durch die Gesellschaft, doch scheinbar gibt es genauso viele Definitionen wie Meinungen dazu. Was verstehen Sie, Herr Professor Wenz, unter einem bedingungslosen Grundeinkommen?
Nun, für mich ist hierunter – dem Namen und den verschiedenen Analysen in der Wissenschaft nach – ein bedingungslos erhaltbares grundlegendes Einkommen zu verstehen, das potenziell jeder Erwachsene bekommen kann. Das bedeutet, dass Minderjährige, die im Haushalt ihrer Eltern leben, kein entsprechendes Grundeinkommen erhalten, so wie jetzt auch bei einem entsprechenden Arbeitseinkommen. Denn wenn man auf ein «Grund»-«Einkommen» abstellt, sollten die betreffenden Personen diese bedingungslose Leistung des Staates stets erhalten, um in einer ähnlichen Situation zu sein, wie diejenigen, die ihr Einkommen am Markt erzielen. Dies bedeutet, dass es dementsprechend nur noch
Einkommensbezieher geben würde; die einen vom Markt, die anderen vom Staat her. Folglich würden auch die grundlegenden Unterschiede, nicht zwingend aber diejenigen in der Höhe, geringer.
Derzeit bietet der Staat eine Grundsicherung. Diese ist jedoch nicht bedingungslos, sondern an die Forderung geknüpft, nach bestem Können einer Arbeit nachzugehen. Gingen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht viele Arbeitskräfte verloren? Dr. Clemens Fuest, Chef des Münchener ifo-Instituts, sagte gegenüber der Wochenzeitung «Die Zeit»: «Die Menschen würden massenhaft aufhören zu arbeiten. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist mit einer sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar.»
Das ist zunächst einmal eine offene und sehr schwierig zu prognostizierende, aber sicherlich eine der ganz zentralen Fragen. Genau deshalb gibt es nach meiner Einschätzung auch so ein starkes Unbehagen gegenüber diesem «bedingungslosen» Grundeinkommen. Und wegen dieses Unbehagens hat man sicherlich auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Grundsicherungssysteme dementsprechend nachgeschärft und die Bedingungslosigkeit der Grundsicherung immer weiter zurückgefahren, sie gleichzeitig aber, und das wird bei dieser berechtigten Argumentation gerne übersehen, betragsmässig erheblich in Richtung eines «bedingten» Grundeinkommens erhöht. So wurden zusätzliche Anforderungen gestellt und Kriterien geschaffen, die ein Bezieher erfüllen muss, um eine Art Grundeinkommen zu erhalten, das regelmässig aber auch erheblich mehr als eine ausschliessliche Grundsicherung darstellt. So muss grundsätzlich jeder versuchen, eine Stelle anzunehmen oder sich fortzubilden und zu qualifizieren. Die Frage in diesem Zusammenhang ist natürlich weiterhin, was mit potenziell Berechtigten passiert, die diese Anforderungen nicht erfüllen können oder wollen? Sie werden tendenziell ihr erhöhtes Grundeinkommen, nicht aber ihre Grundsicherung verlieren, denn insoweit wird niemand im Stich gelassen.
Bis zum Jahr 2025 werden 1,5 Mio traditionelle Arbeitsplätze in Deutschland verschwinden und durch eine in etwa gleich grosse Zahl von anspruchsvollen Computerbedienjobs ersetzt, hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit kürzlich prognostiziert. Als Konsequenz dieses digitalen Wandels fordert jetzt Siemens-Chef Joe Kaeser eine bessere soziale Absicherung, Tesla-Chef Elon Musk hält ein Grundeinkommen für nötig und auch der DM-Gründer Götz Werner hat sich deutlich dafür eingesetzt. Wenn Arbeit also zu einem Privileg wird, brauchen wir eine Abkehr vom heutigen Gesellschaftsmodell, das Leistung besonders honoriert und in dem auf Sozialhilfeempfänger herabgesehen wird?
Das ist zunächst einmal eine kulturelle und gesellschaftliche und insbesondere eine offene Frage: Leben wir in einer Gesellschaft, in einer Kultur etc., in der Arbeiten ein vergleichsweise hohes Ansehen hat und in welcher sich jeder entsprechend auch fortentwickeln und entfalten kann oder wird das zunehmend in Frage gestellt oder ersetzt. Die Beweggründe der genannten Konzernchefs sind sicherlich sehr unterschiedlich: Joe Kaeser hat anscheinend primär die Transformationsphase im Blick, in der Menschen ihre guten Jobs potenziell verlieren und neue Jobs nicht so rasch oder auch nicht in derselben Zahl ausüben werden können. Über diese Transformationsphase möchte er offensichtlich hinweghelfen. In Elon Musk Sicht fallen Jobs durch die Automation und Digitalisierung ersatzlos weg und er erkennt daher ein Dauerproblem in einer Welt in der «weniger zu tun ist bzw. von wenigen erledigt werden kann». Und Götz Werner anerkennt, dass die heutige individuelle Sozialhilfe je nach Gegebenheiten höher ausfällt als ein Grundeinkommen. Seine Definition von Grundeinkommen ist damit sehr bodenständig und basisorientiert und entspricht nicht dem Einkommen einer grundlegenden Tätigkeit. Wenn man es gesellschaftspolitisch ansieht, gibt es verschiedene Annahmen, die man treffen kann und je nachdem diskutiert man unterschiedliche Themen. Geht man davon aus, dass eine grosse Zahl an Jobs wegfällt, stellt sich die grundlegende und generelle Frage der Versorgung dieser Menschen. Zusätzlich zur finanziellen Frage muss sich die Gesellschaft überlegen, was diese Menschen stattdessen tun, wie man sie und wozu sie sich motivieren können. Die Überlegungen von Kaeser, Musk und Werner sind aber letzten Endes etwas in der Art einer Innerer-Frieden-Stiften-Initiative.
So gilt es, die grosse Kluft zwischen nicht und aktiv Arbeitenden in potenziell nicht und eher besser dotierten Jobs zu überwinden. Und dies keineswegs nur aus Altruismus, sondern auch zum eigenen und gegenseitigen Schutz. Man kann nur gut leben, wenn es dem Nachbarn auch gut oder jedenfalls nicht schlecht geht und wenn die Schere nicht zu weit aufgeht und der innere Frieden gefährdet ist. Daher ist die Frage, ob alle anderen mitgenommen werden sollen auch eine, welche jeden schützen und die Gemeinschaft zusammenhalten kann. Aus diesem Grund wurden auch die sozialen Leistungen in einzelnen Staaten bereits deutlich hochgefahren – es gibt Elterngeld, Kindergeld, Familiengeld, es gibt die unterschiedlichsten Themen, Baukindergeld ist in der politischen Diskussion und so weiter. Mit dieser Steigerung der sozialen Leistungen wird aber auch die Frage der Finanzierung dringlicher. Die gleichen Fragen stellen sich auch für das bedingungslose Grundeinkommen. Ich habe nicht den Eindruck, dass dadurch so viele neue Fragen gestellt werden mit Ausnahme dieser Bedingungslosigkeit.
Die Gesellschaft muss sich fragen, wie künftige Generationen motiviert werden können, ein aktives Berufsleben zu führen. In der Nachkriegszeit hatten sich viele auf die Fahne geschrieben, der nächsten Generation soll es besser gehen. Damit einher ging der Gedanke «strengt Euch an, lernt und arbeitet hart, damit es Euch gut geht». Da wurde ja nicht vermittelt: «Sucht Euch ein Land mit einem möglichst hohen und bedingungslosen Grundeinkommen, damit Euch nichts passieren kann und Ihr gut versorgt seid.» Daher ist es eine gesellschaftspolitische Frage und kann auch nur entsprechend entschieden werden. Wir sind heute trotz aller Forderungen in unserer sog. Grundsicherung bereits weit in Richtung eines Grundeinkommens unterwegs, nur eben sehr differenziert mit Einzelfallgerechtigkeit und einer Vielzahl an Bedingungen.
In der Schweiz wurde ein bedingungsloses Grundeinkommen bachab geschickt, doch immerhin rund ein Fünftel der Wahlberechtigten waren dafür. Neben dem Vorwurf des «Sozialschmarotzertums » war vor allem die Finanzierung strittig. Ist ein BG ein unerfüllbarer Traum?
Nun, im Prinzip ist das bedingungslose Grundeinkommen über die jetzigen Umverteilungspotenziale halbwegs ( gut oder schlecht ) finanzierbar, was ja auch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Denn wenn wir von Digitalisierung sprechen und von stark verändernden Innovationen, dann wird es natürlich auch eine entsprechende Vermögens- und Einkommensentwicklung geben, die teilweise stark nach oben geht und die dann auch noch mehr Anreize bietet, diese höher zu besteuern und entsprechende Beträge zu generieren. Die Frage ist die, inwieweit wir ein uns bekanntes System, die Besteuerung von Einkommen ( z.B. aus Arbeit ), um einen Bereich ergänzen, in dem kein Einkommen generiert wird und es zum Transfersystem in einem einheitlichen Korsett erweitern. Dieses einheitliche Korsett gibt es ja auch im Steuersystem. Die Einkommensteuer ist grundsätzlich für alle gleich, der Tarif ist für alle gleich, er steigt, wenn er progressiv ausgestaltet ist, mit höherem Einkommen, die Belastung nimmt aber auch subjektiv auf individuelle Spezifika Rücksicht, etwa beim Kinderfreibetrag, den eben nur jemand mit Kindern erhält etc. So ähnlich könnte man sich das auch bei einem System des bedingungslosen Grundeinkommens vorstellen.
Wenn das bedingungslose Grundeinkommen statt der bisherigen Sozialleistungen gezahlt wird, was passiert mit unverantwortlichen Bezügern, die am Ende des Geldes noch viel Monat übrig haben?
Grundsätzlich muss man festhalten: Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, kann es grundsätzlich keine Bedingungen geben, denn dann wäre es ja mit der Bedingungslosigkeit vorbei. Klar ist aber auch, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht die ausschliessliche Alternative zur Grundsicherung sein kann, wenn jemand verschuldet oder unverschuldet in eine Situation kommt, in welcher wir additiv helfen wollen.
Wenn das bedingungslose Grundeinkommen aber nahtlos in die Einkommensteuer integriert wird, führt dies dazu, dass es dann wie eine Art Mindestlohn ohne Tätigkeit wirkt. Wer mehr Geld verdienen möchte, muss eine Tätigkeit aufnehmen. Diese bezahlte Arbeit muss aber klar über dem bedingungslosen Grundeinkommen entlohnt werden, sonst ist sie anreizlos. Eine Lösung wäre dabei, dass das bedingungslose Grundeinkommen der Höhe nach dem Steuerfreibetrag entspricht und entsprechend reduziert wird, wenn Erwerbseinkommen generiert wird. Eine mögliche Vision wäre: Leute können dann nicht nur auf Nachfragemärkten arbeiten, sondern auch im Bereich der Philanthropie und des Gemeinwohls. Wobei das dann die Frage nach sich zieht, wer bestimmt, was als Gemeinwohl gilt: der Staat, die Kirchen, demokratische Institutionen, das Arbeitsamt oder wieder das Finanzamt? Meines Erachtens ist es das Spannende: Das Grundeinkommen geht von dem Individuum aus und dessen Freiheit, aber auch von dessen Verantwortung mit diesem Grundeinkommen etwas Vernünftiges zu machen.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW Berlin ) und Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, sagt: «Die implizite Botschaft des bedingungslosen Grundeinkommens ist: Chancengleichheit und das Ideal der sozialen Marktwirtschaft, dass jeder Mensch für sich selber sorgen könne, sind eine Utopie – die einzig verbliebene Möglichkeit, gesellschaftliche Unterschiede zu beschränken, besteht in mehr Umverteilung über Steuern und Transfers. [ … ] Der Staat kann und darf sich nicht seiner Verantwortung entledigen und versuchen, sich freizukaufen, indem er die Menschen mit Geld ruhigstellt, statt gute staatliche Leistungen zu bieten.»
Nun, wie bereits ausgeführt, kann das bedingungslose Grundeinkommen eben nicht die einzige Alternative zur Grundsicherung sein. Sehr fraglich und ein weiteres Thema ist zudem, wie man Chancengleichheit bewerkstelligen will. Hierbei gilt es sich zu fragen: Was sind die Gründe für die nicht bestehende Chancengleichheit? Wenn wir wollen, dass die Herkunft, das Elternhaus etc. nicht mehr so stark über die Zukunft des Einzelnen entscheiden, ist zu überlegen, wie das erreicht werden kann ohne gleichzeitig bei einem System mit abgeschafftem Elternhaus zu landen. Klar ist, dazu braucht es gesellschaftliche Transfers: gute oder noch bessere Schulen, bessere Zusatzangebote und Förderungen oder auch Bildungsgutscheine mit Wahlmöglichkeit. Das Individuum auch in die Verantwortung zu nehmen, ist wichtig, aber eine Grundsicherung kann nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen ersatzlos gestrichen werden.
Ich denke, generell sollte man keine überhöhten Hoffnungen auf ein bedingungsloses Grundeinkommen setzen, es wird auch in Zukunft ein ausgewogenes Verhältnis zwischen individuellen und staatlichen Massnahmen brauchen. Vielleicht muss man sich auch überlegen, ob man aus diesem bedingungslosen Grundeinkommen nicht ein partiell bedingtes und zugleich partiell bedingungsloses Grundeinkommen macht, d. h. es gibt eine Art Grundsicherung und zusätzlich Möglichkeiten der Partizipation. Das können Bildungsgutscheine sein, Kulturgutscheine, Sportgutscheine etc. sein, mit denen man sich einbringen und am gemeinschaftlichen Leben teilhaben kann.
Welches sind für Sie die Vor- und Nachteile eines bedingungslosen Grundeinkommens?
Zum Teil ist es sicherlich alter Wein in neuen Schläuchen, also gar nicht so viel anderes als das bisherige System der erweiterten Grundsicherung. Nun als Vorteil könnte man sehen, dass man nur noch ein System hat, nämlich das eines Einkommens, über das man mehr oder weniger frei verfügen kann – sei es ein Erwerbseinkommen oder eben ein Grundeinkommen. Dabei würde das Individuum einerseits gestärkt und zugleich auch in die eigene Verantwortung gestellt werden. Es bringt das Thema der sozialen Grundsicherungssysteme von einer anderen Perspektive in die Diskussion ein und legt deren Justierung auf den Tisch. Die Gesellschaft muss klären, inwieweit sie bereit und willens ist, andere aktiv mitzunehmen im Interesse einer gemeinsamen, lebenswerten Gesellschaft und sie nicht zurück lassen will mit entsprechenden negativen Folgen.
Als Nachteil des bedingungslosen Grundeinkommens muss man sehen, dass es bei konsequenter Anwendung, also ohne weitere Grundsicherung, zu einem sehr kalten Gesellschaftsklima führen kann, in dem sich keiner mehr für den anderen verpflichtet fühlt, weil sich der Staat aus seiner Verantwortung mit diesem Grundeinkommen quasi weitgehend «freikauft». Der gesellschaftliche Kitt, den so viele vermissen und entsprechend auch suchen, entsteht dadurch jedenfalls nicht. Es braucht immer zusätzlich eine Grundsicherung. Die angesprochene Digitalisierung zwingt uns, dass wir uns mit dieser zu lange aufgeschobenen gesellschaftlichen Diskussion und insoweit auch mit dem bedingungslosen Grundeinkommen auseinandersetzen.
*Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der November 2017 Ausgabe des Denkraum Magazins.